Beitrag aus dem Buch von Nikolaus Jackob
„Die Mediengesellschaft und ihre Opfer“
(Berlin 2018 Verlag Peter Lang)
Zwölftes Kapitel : Exkurs: „Das Interview als Verhör“ – oder die Frage, wie man mit Interviewfragen das Trennungsgebot aushebeln kann Gastbeitrag von Bernd-Peter Arnold
„Never forget who the star of the interview is“.988 Der amerikanische Journalismusdozent John Brady benennt mit dieser Empfehlung ein zentrales Problem des Interviews als journalistischer Darstellungsform – auch und vor allem in Deutschland. Das Interview als wichtigste Dialogform ist nämlich ungeeignet für journalistische Selbstdarstellung. Es geht ausschließlich um die Gewinnung von Informationen aus einer authentischen Quelle. Dabei kann es um Sachinformationen zu einem Thema gehen, um die Meinung des Interviewten oder um Informationen zur Person des Gesprächspartners. Der Interviewer ist Vermittler, der durch Fragen Informationen gewinnt, der diese aber weder selbst gibt noch bewertet. Im Folgenden geht es um Interviews in Radio oder Fernsehen, also um „gesprochene“ Interviews, das heißt um die direkte Abbildung eines Dialogs. Interviews in gedruckten oder Online-Medien sind demgegenüber Konstrukte. Dies bedeutet, dass aus einem Gespräch ein Frage-Antwort-Spiel konstruiert wird. Deshalb ist es auch üblich, dass in diesen Fällen dem Interviewpartner das Interview zum Gegenlesen und zur Autorisierung vorgelegt wird. Zurück zum Interview in Radio und Fernsehen. Es dient – wie gesagt – der Gewinnung authentischer Informationen. Dies ist im Zeitalter des Internets von noch größerer Bedeutung als zuvor. Insbesondere die Gefahr durch die sozialen Medien mit ihrer Fülle an nicht überprüfbaren Informationen, die zum Teil aus dubiosen Quellen stammen und den Adressaten mit durch Algorithmen gesteuerten Informationen manipulieren, macht das Interview als originäre Informationsform immer wichtiger. Die sozialen Medien gaukeln den Menschen vor, stets umfassend und aktuell informiert zu werden. Dabei übersehen viele, dass sie weniger Sachinformationen als vielmehr persönliche Eindrücke, Erlebnisse und vor allem Bewertungen von Informationen erhalten, die die klassischen Medien generiert und auf die Agenda gesetzt haben. Die professionellen journalistischen Medien liefern also letztlich die Basis für die sozialen Medien. Dies geschieht nicht zuletzt durch Interviews – vorausgesetzt, diese werden zur Informationsgewinnung benutzt und nicht zur Anklage von Gesprächspartnern oder zur Selbstdarstellung der Interviewer. Umso bedauerlicher ist, dass viele journalistische Interviews oftmals elementare Grundsätze des Handwerks vermissen lassen, stattdessen aber zu Formen der Manipulation, der Meinungsmache und der journalistischen Selbstdarstellung verkommen. Diese sind vom ursprünglichen Ziel dieser journalistischen Darstellungsform weit entfernt. Der amerikanische Medienforscher Neil Postman, stets konstruktiver Kritiker der Medien und des Journalismus, empfiehlt recherchierenden und interviewenden Journalisten: „Erkenntnis bedeutet nicht, dass man die richtigen Antworten hat. Erkenntnis heißt nur, dass man die richtigen Fragen stellt.“989 Es ist erstaunlich, dass viele Interviewer ihre Rolle nicht als Fragesteller verstehen, sondern als Kommentatoren und oft sogar als Ankläger. Intelligente und kritische Fragen stellen und zuhören generiert Informationen. Ein falsches Rollenverständnis blockiert diese jedoch. Es wird nachfolgend von den Handwerksregeln für Interviewer die Rede sein. Diese zu beherrschen, ist in Zeiten hochprofessioneller Public-RelationsAktivitäten, in denen Politiker und Manager systematisch auf Interviewsituationen vorbereitet werden, wichtiger als je zuvor. Wegen fehlender Professionalität oder aus falschem Verständnis der Funktion eines journalistischen Interviews schwanken Interviewer oft zwischen den Extremen „Mikrofonhalter“ und „Stichwortgeber“ einerseits und „Gegnerschaft“ sowie „Kommentator“ andererseits. Medien sind aber weder Werbeplattform noch Ersatzparlament oder gar Ersatzgericht. Doch zunächst einige Beispiele, die zeigen, dass selbst „prominente“ Journalisten Probleme mit den Grundzügen des Handwerks haben – vermutlich aus einem falschen Verständnis ihrer Rolle als Interviewer. Beispiel 1: Am 26. März 2014 wurde der Vorstandsvorsitzende des Siemens- Konzerns, Jo Kaeser, im ZDF-Heute-Journal interviewt (Interviewer: Claus Kleber).990 Kaeser war während der Krimkrise zu Wirtschaftsgesprächen nach Moskau gereist. Gefragt wurde er jedoch nicht nach dem Inhalt der Gespräche, sondern es ging dem Interviewer sehr stark darum, seine eigene politische Position darzustellen. Der frühere Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, schrieb dazu am 28. März 2014 in dieser Zeitung: „Als am Mittwochabend der deutsche Fernsehmoderator Claus Kleber über den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Jo Kaeser wie ein Strafgericht hereinbrach, erlebte der Zuschauer eine Sternstunde der Selbstinszenierung des Journalismus. Unerbittlich nahm Kleber den Mann in die Zange: Kaeser war, lange geplant, nach Moskau gefahren („Was haben Sie sich bei Ihrem Freundschaftsbesuch gedacht?“), er hat nicht nur Putin besucht („Wie lange mussten Sie warten?“), sondern auch den mit Einreiseverbot belegten Eisenbahnchef („Und Sie haben mit dem geredet!“) – und das alles, so Kleber, „als Repräsentant eines Unternehmens, das auch für Deutschland steht.“ […] Diese Inquisition, die auch in ihrem nur dem Remmidemmi verpflichteten Desinteresse daran, was Kaeser von Putin denn gehört haben könnte, alles in den Schatten stellt, was man an Vaterlandsverratsrhetorik aus dem wirklichen kalten Krieg kannte, ist überhaupt nur als Symptom journalistischen Übermenschentums diskutierbar und wird dadurch allerdings auch über den peinlichen Anlass hinaus interessant. Beharren auf einer normativen Deutung dessen, was die westlichen Sanktionen angeblich bedeuten, verwandelt Journalismus in Politik und das Fernsehstudio in einen Ort, wo der Interviewer plötzlich außenpolitische Bulletins abgibt: Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf. […] Die Deutschen sollten nicht erfahren, was Jo Kaeser in Moskau tat, sondern, wie Claus Kleber darüber denkt – ein Ereignis immerhin, von dem selbst die Bundesregierung noch lernen könnte, die am selben Tag mitteilte, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland weitergehen müsse.“991Beispiel 2: Am 28. November 2013 wurde – ebenfalls im ZDF-Heute-Journal – der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel interviewt.992 Gegenstand des von der Journalistin Marietta Slomka geführten Interviews war die Entscheidung der SPDSpitze, ihre Mitglieder über die Bildung einer großen Koalition abstimmen zu lassen, zum ersten Mal in der Geschichte der Partei. Das Interview wurde zum Verhör. In bohrendem Ton wurde immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Verträgt sich ein solches Votum mit unserer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie?“ Gabriel gab eine Antwort mit Begründung. Die Journalistin wiederholte mehrmals die Frage, um von Gabriel die Bestätigung ihrer offenbar abweichenden Meinung zu erhalten, die dieser – natürlich – nicht gab. Selbstverständlich kann man zu dem Thema eine abweichende Meinung haben. Diese gehört dann in einen journalistischen Kommentar, nicht aber in ein Interview. Der Informationsgewinn war übrigens im vorliegenden Fall extrem gering, weil durch die Selbstdarstellungsversuche der Journalistin sehr viel Sendezeit vergeudet wurde. Beispiel 3: Am 12. Juli 2017 wurde – wiederum im ZDF-Heute-Journal – die Schauspielerin Maria Furtwängler interviewt.993 Es ging um eine Studie, die belegt, dass Frauen in den Medien unterrepräsentiert sind. Die Antworten der Schauspielerin entsprachen offensichtlich nicht den Vorstellungen des Journalisten Claus Kleber. Daraufhin kam es zu Unterstellungen, wie zum Beispiel, Maria Furtwängler wolle „das Publikum umerziehen“. Bemerkenswerter noch als der Verlauf des Interviews selbst sind die Reaktionen des Journalisten auf die öffentliche Kritik an seiner Interviewführung. Diese Reaktionen zeugen von einem fragwürdigen Verständnis der Rolle eines Interviewers. Einige Äußerungen im Wortlaut: Maria Furtwängler „war mir […] in der Sache weit überlegen.“ „Sie hat […] die Runde gewonnen.“ „Sie hat dieses Spiel […] hervorragend bestanden.“ „Und so wie ich das verstehe, ist die Aufgabe immer, und das ist manchmal nicht schön, die Gegenhaltung einzunehmen, um das Gespräch reizvoll zu machen und die Gesprächspartnerin auch herauszufordern.“994 Von einem problematischen Verständnis der Rolle eines Interviewers zeugen auch häufig Interviews, in denen Journalisten, wenn etwa ein Politiker nicht die gewünschten Antworten gibt, dieser mit den Aussagen anderer Politiker konfrontiert wird, quasi, um ihn zu „überführen“. Dass diese oft aggressiv vorgetragenen Anklageversuche dem Interviewten und nicht dem Interviewer „Punkte“ bringen, wird dabei unterschätzt. Zahlreiche Interviews mit Vertretern der AfD zeigen immer wieder, wie Journalisten mit dem Versuch, diese Partei um jeden Preis schlecht aussehen zu lassen, eher das Gegenteil bewirken. Beifall von Kollegen und politischen Freunden ersetzt aber nicht mangelnde Professionalität. „Als Interviewer nehme ich die Gegenposition ein“ – so versuchen viele Journalisten ihr aggressives Verhalten zu rechtfertigen. Nein, man ist ein Dienstleister für Hörer und Zuschauer, für ein Publikum, das sich aus Personen mit unterschiedlichen Positionen und Meinungen zum jeweiligen Thema zusammensetzt. Dies bedeutet, dass man stellvertretend für dieses Publikum Fragen stellt. Ein Interview-Profi bezieht nicht die Gegenposition, sondern er konfrontiert den Interviewpartner mit anderen Positionen zum Thema – in Frageform. Journalisten führen in einer Radio- oder Fernsehsendung oft mehrere Interviews. Wird stets die gleiche Position vertreten, entsteht der Eindruck der Parteilichkeit. Zumindest beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist dies ein Verstoß gegen wichtige Grundsätze. Wechselt man aber die Position von Interview zu Interview, werden die Adressaten irritiert. Für Interviewer sollte ein Grundsatz gelten, den der langjährige Moderator der ARD-Tagesthemen, Hanns Joachim Friedrichs, immer wieder vertreten hat, in Diskussionen, Seminaren und Sendungen: „Ein Journalist sollte sich niemals mit einer Sache gemein machen – auch nicht mit einer guten.“ „Ich war […] nicht auf Augenhöhe mit Frau Furtwängler“ – das oben beschriebene Interview dokumentiert eine problematische Grundeinstellung. Selbstverständlich bereitet sich ein Interviewer auf ein Gespräch vor. Aber bringt ihn dies auf Augenhöhe mit dem Interviewpartner? Fünf Interviews in einer Sendung – fünfmal auf Augenhöhe mit Fachleuten? Dies wäre wohl eine bemerkenswerte Selbstüberschätzung und kann nur schiefgehen. Die Folgen sind aggressive Unterstellungen und unzulässige Kommentare. Der amerikanische Journalismusdozent Lawrence Grobel schreibt in diesem Zusammenhang: „Man erwartet von Ihnen als Journalist doch nicht, dass Sie von dem Thema ebenso viel wissen wie der Interviewpartner. Wenn das so wäre, brauchten Sie doch kein Interview zu führen.“995 Es geht um die Gewinnung authentischer Informationen und nicht um Selbstdarstellung von Journalisten. Auch hier sei noch einmal an die Formulierung von Neil Postman erinnert: „Erkenntnis bedeutet nicht, dass man die richtigen Antworten hat. Erkenntnis heißt nur, dass man die richtigen Fragen stellt.“996 Interviewen ist ein wesentlicher Teil des journalistischen Handwerks. Umso erstaunlicher ist, wie oft selbst einfache Handwerksregeln nicht beherrscht werden. Elementar ist die Unterscheidung der verschiedenen Fragearten. Einige wenige Beispiele:997 Der Gebrauch von „offener“ und „geschlossener“ Frage ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Struktur und das Zeitmanagement eines Interviews. Die offene Frage an einen Politiker „Wie beurteilen Sie die Politik des neuen amerikanischen Präsidenten?“ kann zu Beginn eines Interviews gestellt werden, da man mit einer längeren Antwort rechnen muss. Am Schluss eines Interviews gestellt, bringt die offene Frage unter Umständen das Zeitmanagement in Gefahr. Eine geschlossene Frage, wie zum Beispiel „Werden Sie morgen nach Washington reisen?“ eignet sich demgegenüber besser für den Schluss eines Interviews, weil man im Zweifel mit einer „Ja“- oder „Nein“-Antwort rechnen kann. Verstöße gegen diese einfache Regel sind leider journalistischer Alltag. Noch problematischer ist die Bündelung von Fragen. Es scheint eine deutsche Unsitte zu sein, mehrere Fragen zusammen zu stellen. Dieses Verfahren macht es dem Interviewten sehr leicht. Man sucht sich die angenehmste Frage aus und beantwortet diese ausführlich. Die Adressaten und oft auch der Interviewer vergessen die übrigen Fragen, und dem Gesprächspartner bleiben möglicherweise unangenehme Antworten erspart. Interviewer in England, den USA und Kanada bündeln normalerweise keine Fragen. Sie fragen knapp, oft in einem Satz, sodass jeder weiß, was gefragt wurde und man bemerkt, wenn nicht oder ausweichend geantwortet wird. So werden kritische Interviews geführt, uneitel, souverän, auf das einzig wichtige Ziel gerichtet: Informationen für Hörer und Zuschauer zu gewinnen. Tabu ist ein Fragetyp, der gleichwohl in Interviews auftaucht: die Suggestivfrage, eine Frage also, die mit Unterstellungen arbeitet. Sie bringt den Interviewpartner – wenn er nicht berechtigterweise die Antwort verweigert – in die Position eines Angeklagten, der sich verteidigen muss. Die (fiktive) Frage: „Prügeln Sie Ihre Frau immer noch?“ darf nicht gestellt und muss natürlich nicht beantwortet werden. Sie unterstellt, dass der Gefragte seine Frau mindestens einmal geprügelt hat. Die (ebenfalls fiktive) Frage: „Prügeln Sie gelegentlich Ihre Frau?“ ist (im entsprechenden Zusammenhang) erlaubt, da sie nichts unterstellt. Nahezu täglich kann man in Interviews Suggestivfragen hören. Sie bringen in der Regel keine wichtigen Informationen. In jedem Fall verderben sie aber die Gesprächsatmosphäre. Eine gute Atmosphäre bietet aber größere Chancen, Informationen zu gewinnen. Distanz halten zum Gesprächspartner ist eine weitere Grundregel. Der Interviewer ist weder Kumpel noch Gegner. Zur professionellen Interviewführung gehört auch das Zuhören. „Silence is golden as an interviewing technique“998 („Schweigen ist Gold als Interviewtechnik“) empfiehlt John Brady in seinem Lehrbuch. Zuhören, eine Antwort auch einmal stehen lassen. Dem Interviewpartner Gelegenheit geben, nachzudenken und sich eine Antwort zu überlegen – dies alles fällt Journalisten oft schwer, geht aber naturgemäß auf Kosten der Information. Neil Postman beschreibt dieses Phänomen so: „Es liegt schon beinahe außerhalb der Grenzen des Erlaubten, in einer Fernsehsendung zu sagen: „Lassen Sie mich darüber nachdenken“, „Ich weiß nicht“, „Was meinen Sie, wenn Sie sagen …?“ oder „Aus welcher Quelle stammt Ihre Information?“. Diese Art von Diskurs verlangsamt nicht nur das Tempo der Show, sie erzeugt auch einen Eindruck von Unsicherheit oder ‘fehlendem Pfiffʼ. […] Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an […]. Es gibt dabei nicht viel zu sehen. Mit einem Wort, Denken ist keine darstellende Kunst.“999 Neben der Regel, dass Zuhören mehr Informationen bringt als journalistische Selbstdarstellung, gibt es natürlich auch Techniken für das Unterbrechen eines Interviewpartners – auch dabei zeigen sich bei nicht wenigen Journalisten Defizite. Unhöflich ins Wort fallen kommt beim Publikum nicht gut an. Die oft zu beobachtende Situation, dass Interviewer und Gesprächspartner gleichzeitig reden, führt dazu, dass keiner von beiden verstanden wird – ein technisches Phänomen, das zumindest Interviewer kennen sollten. Im Unterschied zum menschlichen Ohr kann nämlich ein Mikrofon nicht selektiv wahrnehmen. Die bewährte Regel, dass ein Interviewer den Gesprächspartner am geschicktesten unterbricht, indem er den gerade begonnenen Satz des Gegenübers aufnimmt und diesen seinerseits fortführt und so wieder das Wort gewinnt, gehört erstaunlicherweise bei vielen Journalisten nicht zum Instrumentarium. Es wurde bereits dargestellt, dass Radio- und Fernsehjournalisten in England, in den USA und in Kanada sehr kritische Interviews führen, die in der Regel einen beträchtlichen Informationsgewinn für den Zuhörer bringen. Die Interviewer halten sich aber gleichwohl an die Grundregeln von Neutralität, Distanz und Verzicht auf die Präsentation der eigenen Meinung. Unterstellungen und Werturteile, insbesondere das Nachkommentieren von Antworten sind tabu. Dies liegt zum einen am Journalismusverständnis in den angelsächsischen Ländern. Man versteht sich in erster Linie als Vermittler von Informationen – auch von unangenehmen Informationen auf der Basis gründlicher Recherche. Hintergrund und Einordnung gelten dort im Unterschied zu Deutschland mehr als der Kommentar oder der in Mode gekommene Begriff „Einschätzung“ zum Kaschieren von Meinung. Mit letzterem wird oft das Trennungsgebot zwischen Nachricht und Meinung umgangen. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist dies bei kritischer Betrachtung sogar ein Verstoß gegen Rechtsnormen. Es kommt aber beim Vergleich der Situation in den angelsächsischen Ländern und in Deutschland noch ein wichtiger Aspekt hinzu. Es sind die unterschiedlichen bzw. nicht vorhandenen festgeschriebenen Regeln. Im Gegensatz zu den deutschen Rundfunkanstalten existieren in den Rundfunkorganisationen in England und Nordamerika nicht nur allgemein formulierte Programmgrundsätze, sondern sehr konkrete Handlungsanweisungen für Journalisten. Diese werden nicht etwa als unzulässige Einschränkung der Pressefreiheit oder als Beschränkung des persönlichen Entfaltungsspielraums verstanden. Ganz im Gegenteil, hier geht es um professionelle Standards. Diese dienen der Qualitätssicherung, und sie sind wichtige Entscheidungshilfen für Journalisten in aktuellen Situationen. So werden sie auch von den Journalisten im täglichen Aktualitätsstress empfunden. Im Zusammenhang mit dem Thema „Interview“ einige Beispiele aus den entsprechenden Regelwerken. Beim öffentlich-rechtlichen kanadischen Rundfunk CBC (Canadian Broadcasting Corporation) sind in den „Journalistic Standards and Practices“1000 neben den Grundsätzen für die Arbeit der Organisation insgesamt auch bis ins Detail gehende Anleitungen für die journalistische Arbeit formuliert. Unter dem Stichwort „Integrity“ heißt es zum Beispiel: „Rundfunkjournalisten nutzen nicht ihre Macht, um ihre eigene Meinung zu präsentieren.“ Zum Thema „Interview“ heißt es, dass Interviewer nicht gegenüber dem einen Gesprächspartner kritisch, und einem anderen gegenüber konziliant sein dürfen. „Es ist wichtig, dass wir uns wegen unserer Glaubwürdigkeit jeglicher persönlicher Werturteile enthalten.“ Dieser Aspekt ist für das Gesamtthema von ausschlaggebender Bedeutung. Journalisten müssten sich stets – wenn sie aus falschem Rollenverständnis die Regeln des Handwerks vernachlässigen – darüber im Klaren sein, dass ihr Verhalten vom Publikum auf die Medienorganisation insgesamt und nicht auf den einzelnen Journalisten bezogen wird. Noch detaillierter als beim kanadischen Rundfunk sind die Regeln bei der öffentlich-rechtlichen BBC (British Broadcasting Corporation). Zwei kurze Abschnitte aus dem Kapitel „Interviewing“: „BBC-Interviews sollen stilvoll und höflich sein. Sie können fordernd, kritisch, skeptisch, informiert und auf den Punkt gebracht sein – aber nicht parteiisch, unhöflich und emotional einer Seite der Argumentation zugewandt. Den Interviewpartnern soll eine faire Chance gegeben werden, ihre komplette Antwort auf die Fragen darzulegen. […] Interviews dürfen herausfordernd sein, aber nicht aggressiv, einschüchternd oder barsch – selbst, wenn man sich provoziert fühlt. In einem gut geführten Interview betrachten die Hörer und Zuschauer den Interviewer als Jemanden, der in ihrem Auftrag arbeitet.“1001 Auffallend bei diesen verbindlichen Regeln ist der hohe Stellenwert des Stils, mit dem Interviewer Gesprächspartnern begegnen. Kritisch sein und kritisch fragen heißt eben nicht, sich unhöflich und aggressiv zu verhalten. Ein wirklich kritischer Journalist wird immer sachlich bleiben. Wie unkritisch viele jedoch sind, kann man leicht an den fehlenden Nachfragen erkennen. Steif von der Karteikarte oder vom Teleprompter abgelesene Fragen, eine nach der anderen, während der Antwort bereits den Blick auf die nächste notierte Frage gerichtet, kein aufmerksames Zuhören – wie sollen so kritische Nachfragen zum Thema entstehen? Stattdessen oft aggressives Wiederholen ein und derselben Frage im Ton eines Inquisitors. Dabei weiß der erfahrene Interviewer, dass eine Frage, die nach einmaligem Nachfragen nicht beantwortet wird, auch beim fünften Anlauf unbeantwortet bleibt. Journalisten haben zwar das Recht, Fragen zu stellen. Interviewpartner haben aber ihrerseits das Recht, nicht zu antworten oder Antworten zu geben, die den Interviewer nicht zufriedenstellen, ihn nicht in seiner vorgefassten Meinung bestätigen oder ihm nicht gefallen. Bei der kritischen Beobachtung vieler Interviews im deutschen Radio und Fernsehen drängen sich einige Fragen auf: Warum verstehen sich so viele Interviewer nicht als Dienstleister, sondern als Selbstdarsteller? Warum wird so häufig gegen grundsätzliche Handwerksregeln verstoßen? Warum werden so selten wirklich kritische Fragen gestellt und stattdessen Behauptungen und Unterstellungen gebracht – in der falschen Erwartung einer Bestätigung? Warum geht es wohl in der öffentlichen Diskussion über Interviews oft weniger um die Inhalte der Aussagen der Interviewten als vielmehr um das Verhalten der Interviewer? Was sagen eigentlich die Verantwortlichen in den Rundfunkanstalten zu der geschilderten Situation, durch die ja das Image des jeweiligen Hauses durchaus leiden kann? Die wichtige journalistische Darstellungsform Interview dient – wie gesagt – der Gewinnung authentischer Informationen. Sie dient nicht der Anklage oder der Überführung von „Tätern“. In diesem Sinne schlechte Interviews bringen Medienhäuser, aber auch den Journalismus insgesamt, in Misskredit. Um die Verbesserung der Medienqualität und des Ansehens von Journalisten bemüht sich seit einigen Jahren eine Expertengruppe um den Nachrichtenchef des dänischen Rundfunks Ulrik Haagerup. Unter dem Motto „Constructive News“ erarbeitet die Gruppe Methoden zur Verbesserung der Qualität im Journalismus. Dabei geht es nicht ausschließlich um Nachrichten im engeren Sinne, sondern um den Informationsjournalismus generell. Die Gruppe betont, dass sie nicht für einen Journalismus eintritt, der Negatives schönredet, Kritik auslässt und Interviews zu Public-Relations-Auftritten verkommen lässt. Es geht lediglich um mehr Nachdenklichkeit und Selbstkritik bei denen, die oft aus reiner Gewohnheit willig dem journalistischen Mainstream folgen. Unter der Überschrift „Der Weg vom traditionellen Journalismus zu Constructive News“ schreibt Ulrik Haagerup: „Nicht mehr, sondern besser. Nicht negativ, sondern kritisch. Nicht aufgebracht, sondern wissbegierig. Nicht anklagend, sondern ermutigend. Nicht schreierisch, sondern neugierig. Nicht populistisch, sondern populär. Nicht stumpfsinnig, sondern modern. Nicht anklagend, sondern offen. Nicht nur nach dem üblichen wo?, wer? und wann? fragend, sondern auch nach dem wie? und was nun?“1002 So können zeitgemäße journalistische Standards entstehen. Sie könnten auch eine Antwort auf die Gefahren der Manipulation der sozialen Medien sein. Auf jeden Fall können sie aber zur Verbesserung der Qualität von Interviews in Radio und Fernsehen beitragen. Bessere Interviews könnten ihre wichtige Rolle in einem zukunftsorientierten Journalismus wahrnehmen, nämlich die Funktion der Einordnung von Fakten und der Erläuterung von Hintergründen. Wiederholt wurde dargelegt, dass das Ziel eines Interviews die Gewinnung authentischer Informationen ist, Sachinformationen, Informationen über die Meinung des Interviewpartners zu einem Thema oder Informationen zur Person selbst. Informationen gewinnt man, wie gesagt, durch professionelles Fragen. Es kommt aber noch ein von vielen Journalisten unterschätzter Faktor hinzu: das Vertrauen des Interviewpartners. Man kann leicht im täglichen Umgang mit Menschen feststellen, dass man von Personen, deren Vertrauen man genießt, mehr erfährt. Die erwähnten Regeln aus den „BBC Producers Guidelines“ fordern ja auch ein Verhalten, das Vertrauen erzeugt. Ein Gesprächspartner, der aggressiv, unfreundlich, unhöflich, fordernd oder unterstellend angegangen wird, sagt weniger, als er weiß, hält sich zurück, schweigt gegebenenfalls. Man fragt sich, warum manche Radio- und Fernsehjournalisten auf solche doch einfachen und einleuchtenden Dinge nicht achten. Das Thema „Vertrauen bringt mehr Informationen“ ist auch Gegenstand von drei in der Anlage sehr unterschiedlichen amerikanischen Interview-Lehrbüchern für Journalisten, die längst zu „Klassikern“ geworden sind. Drei Zitate zur Verdeutlichung: Lawrence Grobel: „Wenn man nicht das Vertrauen des Interviewpartners gewinnt, bekommt man nur die üblichen Allgemeinplätze als Antworten. Und: möglicherweise kein Interview mehr“.1003 Joan Clayton: „Nach einem Interview ist es besser, dass einen der Gesprächspartner für eine nette Person hält als wenn er das Gefühl hat, durch eine Waschmaschine gedreht worden zu sein.“1004 John Brady: „Interviewen ist die Wissenschaft, erst Vertrauen zu gewinnen und dann Informationen.“1005 Sicherlich bedarf – dies wurde aufgezeigt – das System der Interviews in Radio und Fernsehen in Deutschland der Verbesserung und der Korrekturen. Zwei Wege kommen dafür in Frage: Zum einen fehlt es an verbindlichen Regeln. Deren Einführung etwa nach angelsächsischem Vorbild hätte allerdings die hohe Hürde des hiesigen journalistischen Selbstverständnisses zu überwinden. Dieses ist aber stärker von Kritik und Meinung geprägt als vom Streben nach Informationsvermittlung. In einem anderen Bereich wären Verbesserungen indes leichter umzusetzen. Die Ausbildung von Radio- und Fernsehjournalisten könnte und sollte sich stärker dem Thema „Interview“ widmen.
Bernd-Peter Arnold
Nachrichtenselektion im Zeitalter des Internets
Ein kritisches Plädoyer für sogfältigen Journalismus
In diesen Tagen steht der Journalismus oftmals in der Kritik. Die Arbeit der Medienmacher wird gelegentlich professionell, meist aber interessengesteuert und emotional kritisiert. Es ist klar, dass der Journalismus sich auf die gesellschaftlichen und technischen Veränderungen einstellen muss. Im Zeitalter der Digitalisierung müssen traditionelle Arbeitsmethoden überdacht und angepasst werden. Stets aber muss es um die Erhaltung des Qualitätsjournalismus gehen. Die professionelle Nachrichtenauswahl, durch die bekanntlich die Agenda der Gesellschaft bestimmt wird, spielt angesichts der zum Teil gefährlichen Entwicklungen durch die sozialen Medien eine immer bedeutendere Rolle.
Zum Thema „Nachrichtenselektion im Zeitalter des Internets“ habe ich den folgenden Aufsatz in dem von Karl Nikolaus Renner, Tanjev Schultz und Jürgen Wilke herausgegebenen Buch „Journalismus zwischen Autonomie und Nutzwert“ (Köln, von Halem Verlag, 2017) verfasst.
Es wäre schön, wenn der Beitrag Ihr kritisches Interesse fände.
Ungefähr 2.500 Jahre liegen zwischen den Berichten über zwei Ereignisse, die zu ihrer Zeit die jeweilige Öffentlichkeit bewegt haben. Es geht um den Peloponnesischen Krieg im fünften Jahrhundert vor Christus und den Anschlag im Olympia-Einkaufzentrum in München am 22. Juli 2016.
Thukydides, griechischer Flottenkommandeur im Peloponnesischen Krieg, Berichterstatter und Historiker beginnt seinen Bericht mit der Bemerkung:
»Was aber tatsächlich geschah in dem Krieg, erlaube ich mir nicht nach Auskünften des ersten Besten aufzuschreiben, auch nicht nach meinem Dafürhalten, sondern bin Selbsterlebtem und Nachrichten von anderen mit aller erreichbaren Genauigkeit bis ins Einzelne nachgegangen. Mühsam war diese Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht das selbe über das selbe aussagten, sondern je nach Gunst oder Gedächtnis.« ( München 1991, S. 35).
Überlegungen zur Sorgfalt eines Berichterstatters, zu journalistischer Sorgfalt würde man die Äußerungen von Thukydides heute nennen. Als am 22. Juli 2016 ein junger Mann in einem Münchner Einkaufszentrum zehn Menschen tötete, basierte die Berichterstattung zunächst großenteils auf nicht überprüften Aussagen von Augenzeugen, auf den Informationen selbsternannter Journalisten im Internet und auf möglicherweise bewußt verbreiteten Falschmeldungen. Anonyme „Bürgerjournalisten“ meldeten über Soziale Medien, auch in der Münchner Innenstadt werde geschossen. Großeinsätze der Polizei waren die Folge von Gerüchten und Falschmeldungen. Eine Großstadt befand sich im Ausnahmezustand. Hilflos wirkende Fernsehreporter beriefen sich lange Zeit ebenfalls auf Gerüchte. Erst ein besonnener Polizeisprecher brachte Ordnung in das Informationschaos.
Der Anschlag von München ist nur ein Beispiel für die Probleme und Gefahren, denen sich die aktuelle Medienberichterstattung heute gegenüber sieht. In einer Zeit, in der jeder alles an alle verbreiten kann, muss es darum gehen, die journalistischen Grundsätze von Informationsauswahl, Recherche und Überprüfung nicht nur zu erhalten, sondern immer wieder einzufordern und vor allem, sie dem journalistischen Nachwuchs zu vermitteln. Nur so kann und muss sich der professionelle Nachrichtenjournalismus unterscheiden von den Informationen von Wichtigtuern, die weitgehend Meinungen und persönliche Befindlichkeiten verbreiten. Nur so kann letztlich der professionelle Journalismus überleben.
In einer Zeit, in der Gerüchte und Meinungen in Form von Fakten real-time publiziert werden können, hat sich die Frage der Korrektheit, der Überprüfbarkeit völlig neu zu stellen.
Ein Reporter am Ort eines Geschehens und ein Informationen auswählender Redakteur können selbstverständlich nicht ignorieren, was bereits öffentlich geworden ist – aus welchen Quellen und mit welchen Absichten auch immer. Sie müssen derartige Gerüchte zur Kenntnis nehmen – ihre Leser, Hörer und Zuschauer kennen sie nämlich im Zweifel bereits. Es geht aber darum, sie sorgfältig zu überprüfen. Zur sorgfältigen Nachrichtenauswahl kommt immer stärker die Nach-Recherche. Nachrichtengestaltung auf der Basis vorhandener, zuverlässiger Quellen, das heißt Nachrichtenagenturen und eigene Mitarbeiter ist in einer Zeit, in der jeder alles verbreiten kann, nicht mehr ausreichend. Grundsätzlich können zusätzliche Informationsquellen natürlich auch Vorteile bieten. Ihre Überprüfung bedeutet aber zusätzlichen Aufwand, der angesichts der Sparzwänge in vielen Redaktionen kaum zu leisten ist. Der Gatekeeper wird zusätzlich zum Rechercheur, zum Rechercheur nicht nur bezüglich der Inhalte, sondern vor allem auch bezüglich der Validität der Quellen. Die Gefahr, dass die Medien manipuliert werden, ist daher groß. Hier kommt es auch auf die korrekte Bezeichnung von Internet-Quellen an, auf deutliche Hinweise auf deren Hintergründe und gegebenenfalls die Nicht-Überprüfbarkeit. Ein Beispiel: Nachrichten über den Syrien-Konflikt kommen seit langem von der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ mit Sitz in London. Dass diese Organisation für die Nachrichtenmedien eine Quelle sein kann, ist klar. Es muss aber stets der Hinweis erfolgen, dass deren Informationen nicht unabhängig überprüft werden können. Dieser wichtige Hinweis fehlt aber nicht selten in der Berichterstattung.
Verfolgt man kritisch die Verbreitung von persönlichen Erlebnissen, die allenfalls Augenzeugenberichte sind, von Meinungen und individuellen Befindlichkeiten und stellt fest, dass diese in die Medienberichte einfließen – ja für viele gar als ausreichende Information über das Tagesgeschehen betrachtet werden – dann kommt einem ein alter, von manchen möglicherweise als altmodisch und überholt betrachteter Begriff in den Sinn: „Journalistische Sorgfaltspflicht“.
Insbesondere die Medien in den angelsächsischen Ländern England, USA und Kanada arbeiten nach sogenannten „Accuracy-Checklist“. Diese Listen enthalten – eigentlich selbstverständliche – Regeln für sorgfältige journalistische Arbeit. Diese Regeln werden von seriösen Redaktionen insbesondere jetzt, in der Zeit der Flut nicht überprüfbarer Informationen wieder stärker herangezogen. Vor allem dem journalistischen Nachwuchs werden sie an die Hand gegeben. Bill Kovach und Tom Rosenstiel haben in der jüngsten Ausgabe ihres Standardwerks „The Elements of Journalism“ (2014, S. 131) eine aktuelle Checkliste zusammengestellt:
- Is the lead of the story sufficiently supported?
- Is the background material required to understand the story complete?
- Are the stakeholders in the story identified, and have representatives from that side been contacted and given chance to talk?
- Does the story pick sides or make subtle value judgements?
Will some people like the story more than they should? - Have you attributed and / or documented all the information in your story to make sure it is correct?
- Do those facts back up the premise of your story? Do you have multiple sources for controversial facts?
- Did you double-check the quotes to make sure they are accurate and in context?
“Idealfälle, nicht erreichbar, nicht darstellbar” werden Kritiker sagen. Aber, „googeln“ reicht nicht, will der professionelle Journalismus überleben.
Besondere Aufmerksamkeit in dieser Liste verdient die Frage: „Will some people like this story more than they should?“ Eine klare Absage an den Gefälligkeits-Journalismus – ob bezahlt oder aus Überzeugung für eine Sache oder eine Person. Ob es um Themen aus der Wirtschaft oder der Politik geht – sehr oft (auch in öffentlich-rechtlichen Qualitätsmedien) werden Interessen bedient.
Ein Beispiel ist der Umgang mit der „Alternative für Deutschland“. In Interviews im öffentlich-rechtlichen Radioprogrammen werden Vertreter dieser Partei oft nicht kritisch befragt. Das wäre gutes journalistisches Handwerk – vermutlich mit wichtigen Informationsergebnissen, auf deren Basis sich Hörer ein eigenes Bild von dieser Partei machen können. Stattdessen werden die Politiker ständig unterbrochen. Ihnen werden dann alte Äußerungen anderer Vertreter der Partei vorgehalten – aus dem Zusammenhang gerissen. Die vermeintlich kritischen Journalisten wollen offenbar diese Gesprächspartner „vorführen“. Das mag ihren Freunden und Kollegen gefallen („Will some people like this story more than they should?“). Das breite Publikum hat im Zweifel eher Verständnis für einen unfair und unprofessionell behandelten Politiker. Ob den Interviewern wohl klar ist, wessen „Geschäft“ sie hier betreiben?
Wie bereits gesagt: Es geht um Sorgfalt bei der Recherche, ebenso wie bei der Nachrichtenselektion. Dass die Grundsätze für Reporter und Autoren gelten müssen ist klar. Eine solide Basis-Recherche, das heißt die Recherche zu einem neuen Thema, verfährt nach diesen Regeln. Immer wichtiger wird aber die Nach-Recherche, das heißt die Überprüfung von Nachrichten und ihren Quellen durch die Gatekeeper, die auswählenden Redakteure. Sie befinden sich in der wachsenden Gefahr, unseriösen, ungenauen und interessengesteuerten Informationen aufzusitzen.
Zum Verifizieren von Informationen gehört im Journalismus – ebenso wie in der Wissenschaft – das Falsifizieren. Die Frage, ob dieser Grundsatz allen Berichterstattern und Gatekeepern bewußt ist, muss wohl ernsthaft gestellt werden. Internetquellen, insbesondere die Sozialen Medien, liefern so viele Informationen zu nahezu allen Themen, dass es leicht ist, für jede Hypothese oder jede Vermutung eine Bestätigung zu finden. Eine hochgefährliche Herangehensweise. Erst das Beachten der Gegenargumente, der Gegenbelege macht eine Geschichte solide und zuverlässig. Zugegebenermaßen fällt durch das Falsifizieren manches Thema in sich zusammen. Aber der Satz: „Ich werde mir doch meine Vorurteile nicht wegrecherchieren“ gilt allenfalls als Karikatur.
Natürlich müssen die Redaktionen der professionellen Medien heutzutage die Sozialen Medien ernst nehmen und sie verantwortungsvoll nutzen. Ihre Rolle als Quellen bei der Nachrichtenauswahl bedarf aber kritischer Überlegungen, zumal die Versuchung angesichts knapper Ressourcen in den Redaktionen groß ist, diesen problematischen Quellen zu viel Gewicht beizumessen. Eine wichtige Frage lautet, wer sich hinter diesen Veröffentlichungen verbirgt. Da sind zum einen die „Bürgerjournalisten“, Menschen mit Zeit und Interesse an Neuem und Interessantem. Ihre Berichte sind in der Regel Zufallsprodukte, die Beschreibung eigener Beobachtungen. Weder die Auswahl der Informationen noch die Darstellung sind professionell. Sie haben allenfalls die Qualität von Augenzeugenberichten. Punktuelle Beobachtungen ohne Hintergrundrecherche sowie persönliche Bewertungen sind die Basis. Eine andere Gruppe sind die von einem Geschehen Betroffenen, die ihre Eindrücke verbreiten. Hier von Objektivität zu sprechen, wäre sehr verwegen. Und: schließlich die zufälligen Augenzeugen, die ein Ereignis mitbekommen und nun ihre „Sternstunde“ erleben. Selbst wenn man den Bürgerjournalisten und den zufälligen Beobachtern die Qualität von Augenzeugen beimisst: Augenzeugen waren stets und bleiben problematische Quellen, denen ein erfahrener und verantwortungsbewußter Journalist mit allergrößter Vorsicht begegnet. Jeder Richter in Verkehrsstrafsachen weiß Erlebnisse mit Augenzeugen zu berichten, die an deren Wert immer wieder zweifeln lassen. Ähnliche Erlebnisse haben Journalisten, die nach einem Ereignis mit Augenzeugen sprechen. Zwei Probleme ergeben sich immer wieder. Einmal haben Augenzeuge von Journalistengespräch zu Journalistengespräch immer mehr gesehen. Sie leiten aus Fragen Antworten ab, die mit der Realität oft wenig zu tun haben. Schließlich muss natürlich ein solide arbeitender Journalist die vorhandene oder fehlende Sachkompetenz eines Augenzeugen berücksichtigen. Ob ein Zufallszeuge oder ein Luftfahrt-Experte als Augenzeuge eines Flugzeugunfalls gefragt werden, muss gewiss bei der Einordnung und Bewertung von Aussagen unterschiedlich eingeschätzt werden.
Die Vorkommnisse im Jahr 1977 im Zusammenhang mit der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer sind Gegenstand vieler Diskussionen und Publikationen. Unmittelbar nach der Tat wurden am Tatort Augenzeugen live im Radio interviewt. Später stellte sich heraus, dass die vermeintlichen Augenzeugen Mittäter beziehungsweise Unterstützer waren, die versucht hatten, die Fahnder in die Irre zu führen.
Bürgerjournalisten und Augenzeugen ungeprüft als Informationsquellen zu benutzen, birgt stets auch die Gefahr, manipuliert und damit auch instrumentalisiert zu werden.
In diesen Zusammenhang gehört auch eine aktuelle Mode im Journalismus. »Ich bin ganz nah bei den Leuten. Ich spreche immer direkt mit den Bürgern.« ließ sich eine Reporterin einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt stolz vernehmen – mit dem Unterton, dass das Publikum so authentische Informationen bekomme. Auch hier das Phänomen der punktuellen, persönlich gefärbten und motivierten Detail-Berichterstattung, die natürlich kein wirkliches Bild von einer Situation liefern kann. Medien laufen Gefahr, statt Informationen immer mehr Unterhaltung zu liefern: Gegen gut gemachtes „Infotainment“ ist selbstverständlich nicht nur nichts einzuwenden. Es hat eine außerordentlich wichtige Funktion. Der Transport von Informationen mit Mitteln der Unterhaltung kann ein sinnvolles Instrument sein, Informationen auch an Adressaten zu vermitteln, die eher nicht offen für „spröde“ Nachrichten sind. Erinnert sei hier aber an die These, mit der Neil Postman Mitte der 1980-er Jahre Teile der Radio- und Fernsehwelt gegen sich aufbrachte. »Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.« (1985, S. 110).
Emotionen statt „Nachrichten mit Gebrauchswert“. Der angelsächsische Begriff „News you can use“ geht mehr und mehr verloren, wenn persönliche Erlebnisse Betroffener, Befindlichkeiten und Bewertungen Kriterien für das Bringen oder Nicht-Bringen werden. Oft wird berichtet, wie Menschen auf Nachrichten reagieren, welche Meinung sie dazu haben. Betrachtet man einmal über einen gewissen Zeitraum die Informationen, die über die Sozialen Medien verbreitet werden, fällt auf, dass eine sehr große Zahl Reaktion auf Nachrichten sind, die man – gegebenenfalls natürlich online – aus professionellen Medien erfahren hat.
Hier wird deutlich, wodurch nach wie vor – und möglicherweise immer stärker – die Agenda wirklich bestimmt wird. Es sind die großen Nachrichtenagenturen, die die Auswahl treffen und die Vorgaben machen. Die Nachrichtenagenturen sind nun einmal die wichtigsten Nachrichtenlieferanten. Lange Zeit habe Redakteure despektierlich von „Agenturgläubigkeit“ vieler Kollegen gesprochen. Was wäre wohl mit ihren Medien geschehen, hätte man auch nur für wenige Stunden die Agenturempfänger abgeschaltet? Die bewährten und meist mit hoher journalistischer Qualität arbeitenden Nachrichtengroßhändler, die Agenturen bestimmen – wie gesagt – weitegehend die Nachrichtenauswahl der Medien und damit auch derer, die über die Sozialen Medien weiter publizieren. Soweit deren Äußerungen über persönlich Erlebtes und ihre persönliche Befindlichkeit hinausgehen, sind es Reaktionen auf Nachrichten, Nachrichten, die meist von Agenturen stammen und über klassische Medien verbreitet wurden. Es ist keine allzu gewagte Prognose, den großen Nachrichtenagenturen gute Zukunftsperspektiven vorauszusagen, vorausgesetzt natürlich, sie stehen auch künftig für hohe journalistische Qualität. Diese basiert auf sorgfältiger Recherche, dem 2-Quellen-Prinzip und dem Grundsatz „nicht nur verifizieren, sondern stets auch falsifizieren.“
Eine andere Entwicklung als in der überregionalen Berichterstattung zeigt sich bei Lokal- und Regional-Nachrichten. Gewiss, den Bürgerjournalisten gibt es auch im lokalen Bereich. Aber hier stehen außer den persönlichen Beobachtungen und Erlebnissen kaum Nachrichtenquellen zur Verfügung, an deren Veröffentlichung man sich mit eigenen Kommentaren „anhängen“ kann. Lokale und regionale Medien arbeiten stärker als überregionale mit der Eigenrecherche und kaum mit Nachrichten, die ohnehin vorhanden sind.
Belegt wird dies durch eine Studie, die das Pew Research Center in Baltimore in den USA veranstaltet hat. Im Jahr 2010 untersuchte das Institut in dieser Stadt bei 53 Medien-Outlets die Lokalnachrichten. Zentrale Frage war, ob die Lokalberichte neue Informationen enthielten, oder nur bereits Bekanntes wiederholten. Das Ergebnis ist erstaunlich und bestätigt eigene Beobachtungen: vier Fünftel der Berichte brachten bereits Bekanntes. Und dann: 95% der Berichte mit wirklich Neuem erschienen in den traditionellen Medien Zeitungen, Lokalfernsehen und Lokalradio. Auf die Sozialen Medien entfielen gerade einmal 5%. (2010)
Es stellt sich auch die Frage nach der Nachrichtenauswahl bei den sogenannten „Livetickern“. Stefan Niggemeier (2014) überschrieb einen Hintergrundbericht in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bezeichnenderweise: „Irgendwas ist immer“. »Der Liveticker ist zu einem allgegenwärtigen Online-Format geworden. Er suggeriert fortwährend, dass irgendwo etwas passiert, das unsere permanente Aufmerksamkeit verlangt.« Kritisch setzt er sich mit dieser Art der Nachrichtenauswahl und –verbreitung auseinander. Zum Thema Auswahl, Gewichtung und Aktualisierung heißt es: »Eine für kontinuierliche Updates maßgeschneiderte Software, „scribble live“ macht es einfach, Tweets und andere Inhalte einzubinden. Mit dem Programm können auch Reporter von außerhalb unkompliziert per Mobiltelefon neue Beobachtungen direkt auf die Seite senden. Aber wie das so ist: Eine Software, die es leicht macht, einen Text zu aktualisieren, macht es auch sehr schwer, ihn nicht zu aktualisieren. Und so wohnt den Nachrichtentickern die Tendenz inne, zu Nicht-Nachrichtentickern zu werden.« (Niggemeier aaO) Oft wird dann, dies lehrt die Erfahrung, lediglich mitgeteilt, dass es nichts mitzuteilen gibt. Aber auch dies halten bekanntlich manche für eine Nachricht. Niggemeier (aaO) kommt zu dem Schluß: »Es ist in mancher Hinsicht eine unjournalistische journalistische Form: sie sortiert und gewichtet nicht, sie sammelt nur und hält das, was sie findet, in chronologischer Reihenfolge fest.«
Auch hier ist natürlich die Gefahr der Manipulation gegeben. Inhalte werden etwa regelmäßig so umgestaltet, dass sie bei Suchmaschinen besonders gut „ankommen“. Neue Überschriften sollen beispielsweise den Eindruck vermitteln, es gäbe etwas Neues. Da Click-Zahlen für den Verkauf von Online-Werbung bekanntlich sehr relevant sind, ist Phantasie gefragt, diese zu erhöhen.
Die Nachrichtenselektion für reine Online-Medien und die Nutzung von Sozialen Medien durch die klassischen Nachrichtenredaktionen werfen zwei weitere Probleme auf. Da ist zum einen der sogenannte Echtzeit-Journalismus und dann das überstrapazierte Phänomen der „Breaking-News“.
Sowohl professionelle Journalisten als auch Amateure nutzen nicht selten die technische Möglichkeit, von laufenden Ereignissen (Sitzungen, Pressekonferenzen, Gerichtsverhandlungen bis hin zu Polizeieinsätzen) unmittelbar online zu berichten. Nun tun die klassischen elektronischen Medien, insbesondere das Radio dies seit ihrem Bestehen. Live-Berichterstattung gehört dort zum Alltag. Der wesentliche Unterschied und die Gefahr der geschilderten aktuellen Online-Berichterstattung bestehen jedoch darin, dass Nachrichten über Ereignisse verbreitet werden, bevor diese abgeschlossen sind oder zumindest einen Stand erreicht haben, der eine zuverlässige Berichterstattung wirklich erlaubt. Sonst entstehen Falschmeldungen und Widersprüche. Aber ist eine solche Nachricht erst einmal publiziert, ist sie kaum noch zu korrigieren.
„Breaking-News“ galt bis vor wenigen Jahren als etwas Besonderes. Ein Ereignis wurde von professionell arbeitenden Journalisten als so wichtig bewertet, dass man ein Radio- oder Fernseh-Programm unterbrach, weil man nicht bis zur nächsten Nachrichtensendung warten wollte. Dies waren schwerwiegende Entscheidungen, und die Verantwortlichen mussten für eine Programmunterbrechung gewichtige Gründe anführen. In den Online-Medien scheint es fast immer nur „Breaking-News“ zu geben – dabei ist der Begriff im Zusammenhang mit einer ohnehin möglichen ständigen Aktualisierung genaugenommen überflüssig.
Ein weiteres Problem des derzeitigen Journalismus wird durch die Flut der Online-Publikationen ebenfalls verstärkt: Die Neigung, ja oft sogar die Flucht zum Kommentar. Nachrichtenbeschaffung ist kostspielig und erfordert viel professionelle Erfahrung. Kommentierung ist vergleichsweise leicht. Deshalb werden allzu oft fehlende Informationen durch Meinungsäußerungen ersetzt – häufig vermeintlich geschickt, aber letztlich doch verräterisch kaschiert durch den Begriff „Einschätzung“. Der journalistische Grundsatz der Trennung von Nachrichten und Meinungen – im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sogar gesetzlich beziehungsweise staatsvertraglich vorgegeben – wird immer öfter nicht mehr beachtet. In den Sozialen Medien werden neben punktuellen Einzelbeobachtungen im Wesentlichen persönliche Meinungen und „Einschätzungen“ verbreitet.
Die Wiedergabe von Meinungen in Form von Zitaten ist natürlich „Nachricht“. Doch bei der Auswahl kommt es hier – dies ist ein eherner Grundsatz für Nachrichtenredakteure – auf zwei Kriterien an, auf Relevanz und Meinungsvielfalt. Boris Paal und Moritz Hennemann (2016) sehen hier Gefahren. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreiben die Autoren: »Eine offene Gesellschaft braucht Meinungsvielfalt. Die ist jedoch durch digitale Plattformen bedroht, die herrschende Ansichten verstärken.« Besonders kritisch sehen die beiden Wissenschaftler die Struktur der Such- und Auswahl-Algorithmen, die sich nach ihrer Beobachtung vielfach vor allem an der von den Betreibern selbst definierten Relevanz orientiert. »Soweit sich die Relevanz regelmäßig an Mehrheitspräferenzen ausrichtet, bedeutet dies, eine sich selbst verstärkende Verzerrung zugunsten von beliebten Inhalten. Auf Wahlkämpfe übertragen folgt hieraus, dass ein entsprechender Algorithmus die zu Beginn des Wahlkampfes bestehende Mehrheitsmeinung begünstigt.« (Paal und Hennemann aaO) Kritisch betrachten Paal und Hennemann auch, dass digitale Nachrichtenplattformen das Nutzerverhalten auswerten. Nahliegend ist, dass dann, um Abrufzahlen zu erhöhen, Nachrichten nach dem Geschmack der Adressaten ausgewählt werden. Nachrichtenauswahl nach Verkaufbarkeit führt freilich nicht zu einer informierten Gesellschaft. Zur Informiertheit gehört bekanntlich die Kenntnis möglichst vieler Meinungen, und zwar relevanter Meinungen. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben professioneller Journalisten, dem Adressaten eine Vielfalt relevanter Positionen zu präsentieren. Allerorten wird gefordert, der Bürger solle in die Lage versetzt werden, sich selbst Urteile zu bilden. Richtig, und zwar auf der Basis von anderen Meinungen. „Relevante Meinungen“ heißt weder nur „offizielle“ Meinungen noch die Meinungen von Wichtigtuern oder Menschen mit negativen Absichten, die sich permanent über Soziale Medien äußern. Die Auswahl relevanter Positionen Suchmaschinen nach Nutzerverhalten zu überlassen, führt letztlich zur Manipulation von Meinungen.
Hinzu kommt, dass die Trennung von Public Relations, Werbung und Berichterstattung mit diesen Methoden gewiss auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten – und vermutlich auch nicht gewollt ist.
Der österreichische Fernsehjournalist und Medienwissenschaftler Armin Wolf ging in einer Vorlesung an der Wiener Universität (Wien 2013) auf das bereits erwähnte Phänomen ein, dass in den Sozialen Medien meist Informationen weitergegeben und allenfalls kommentiert werden, die diese über die traditionellen Medien erfahren haben. Dies gilt – so Wolf – auch für Enthüllungen beispielsweise durch Wikileaks und dergleichen, die zwar ins Netz gestellt, aber an ein breites Publikum durch die traditionellen Medien Zeitung, Radio und Fernsehen verbreitet werden. Man überlässt also die Auswahl und Gewichtung des für das Publikum Wichtigen den professionellen Journalisten. Wolf zitiert den früheren General-Intendanten des Österreichischen Rundfunks (ORF), Gerd Bacher mit dem Satz: »Journalismus ist Unterscheidung – die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, Sinn und Unsinn.« (Wien 2013, S. 64) Damit ist die Frage, die der Titel von Wolfs Publikation anlässlich der Vorlesung stellt „Wozu brauchen wir noch Journalisten?“ eigentlich beantwortet. Wolf argumentiert unter Berücksichtigung der Überflutung durch Nachrichten aus dem Internet: »Das heutige Bild eines Journalisten ist deshalb nicht mehr das eines Gatekeepers, glaube ich, sondern das des Kurators. Derjenige, dem Sie zutrauen, dass er für Sie auswählt, welchen Informationen Sie Ihre begrenzte Zeit und Aufmerksamkeit widmen sollen. Das ist keine Machtposition mehr, sondern eine Dienstleistung. Eine wertvolle Dienstleistung allerdings. Diese Auswahl ständig selbst zu treffen, wäre heute zwar grundsätzlich möglich – aber letztlich ist es ineffizient.« (2013, S. 78) Er fährt dann fort: »Sie brauchen jemanden, der Ihnen empfiehlt, was Sie sich ansehen sollen. Sie können das über Ihren Facebook-Newsfeed erledigen und nur das lesen, was Ihnen Ihre Facebook-Freunde schicken. Ich bin nicht ganz sicher, ob Sie dadurch ein besonders umfassendes Bild vom Weltgeschehen bekommen.« (2013, S. 78)
Professionelle Auswahl, Gewichtung und Gestaltung von Nachrichten sind es, die dem Bürger die Möglichkeit eröffnen, sich ein Bild vom Tagesgeschehen zu machen. Punktuelle, oft interessengesteuerte Informationen vermögen das nicht. Schon allein die Flut der Informationen, die ungeordnet über die reinen Internetnutzer hereinbricht, überfordert diese. Arthur O. Sulzberger, der langjährige Herausgeber der New York Times formuliert: »There is no shortage of news in the world. If you want news, you can go to cyberspace and grab out all this junk. But I don’t think most people are competent to become editors, or have the time or the interest.« (2012)
(Es gibt keinen Mangel an Nachrichten auf dieser Welt. Wenn man Nachrichten will, begibt man sich in den Cyberspace und greift sich all das Zeug. Ich glaube aber nicht, dass die meisten Leute kompetent sind, Redakteure zu werden oder die Zeit oder das Interesse dafür haben.)
Das Plädoyer für professionellen Journalismus bedeutet auch, dass eine gründliche Journalisten-Ausbildung von allergrößter Wichtigkeit ist. Dem journalistischen Nachwuchs muss vermittelt werden, welche Rolle Nachrichtenauswahl und Nachrichtengewichtung spielen. Die von Armin Wolf zu Recht geforderte Kuratoren-Rolle kann man verantwortlich nur ausfüllen, wenn man mehr erfahren hat als die Anwendung und Wirkung moderner Techniken des möglichst schnellen Informationsumschlags.
Ob durch die zusätzlichen Informationskanäle eine insgesamt größere Informiertheit der Gesellschaft erreicht wird, ist zumindest zweifelhaft. Die nordamerikanische Kommunikationswissenschaft spricht von einer Spaltung der Gesellschaft in „Information-Rich“ und „Information-Poor“. Erstere könne sich aufgrund materieller und intellektueller Möglichkeiten alle gewünschten Informationen beschaffen. Letztere begnügen sich mit „Häppchen-Informationen“ aus Boulevard-Medien und dem Internet.
Thomas Meyer (Berlin 2015, S. 179) weist deutlich darauf hin, dass durch die Tatsache, dass Viele sich auf die Informationen über Soziale Netzwerke beschränken, die Spaltung der Gesellschaft in gut Informierte und weniger Informierte gefördert wird. »Hierzulande sind zwei Drittel der Internetnutzer lediglich an Unterhaltung interessiert und nur ein reichliches Viertel an politischen Informationen. Und selbst von diesen sind die allerwenigsten aktive Kommunikatoren, der Großteil rezipiert passiv die Kommunikation der anderen – und die ist überwiegend flach und chaotisch. … So verschärft sich die aus der Offline-Welt vertraute Asymmetrie: die gut Informierten sind nun noch besser informiert, der Rest gerät immer weiter ins Hintertreffen.«
Den traditionellen Qualitätsmedien kommen angesichts der Überflutung der Gesellschaft mit nicht-professionell ausgewählten, gewichteten und gestalteten Informationen nach wie vor und sogar immer stärker fundamental wichtige Aufgaben zu. Zunächst liefern sie die Informationsbasis, ohne die die Sozialen Medien recht inhaltslos blieben. Durch ihre publizistische Qualität geben sie ihren Adressaten ein immer wichtiger werdendes Instrument an die Hand. Dieses Werkzeug beschreibt Arthur O. Sulzberger mit den Worten: »You are not buying news when you buy the New York Times. You are buying judgement.« (Sulzberger aaO) (Sie kaufen, wenn sie die New York Times kaufen, keine Nachrichten. Sie kaufen Urteilskraft.)
Bei aller Kritik und angesichts zahlreicher Probleme darf natürlich eines nicht übersehen und nicht unterschätzt werden: Die neuen Informationskanäle bieten dem professionellen Journalisten viele zusätzliche Chancen, seine Nachrichtengebung zu bereichern. Vor allem aber werden neue Wege zur Recherche eröffnet. Zu fordern sind aber hier ausgeprägte Skepsis, kritische Distanz – vor allem aber die Bereitschaft, Information und Quellen sorgfältig und kritisch zu überprüfen. Dies ist teuer, mühsam und unbequem.
Zum Schluß nochmal die Rückblende in das fünfte Jahrhundert vor Christi Geburt: „Thukydides, Flottenkommandant und Berichterstatter über den Peloponnesischen Krieg zu einem Thema auch und gerade unserer Zeit: »Leichtsinnig sind die meisten bei der Erforschung der Wahrheit und geben sich mit den ersten besten Nachrichten zufrieden.« (aaO).
Quellenverzeichnis:
- Habermann, Clyde
„Arthur O. Sulzberger died“
New York Times 29. September 2012 - Kovach, Bill und Rosenstiel, Tom
„The Elements of Journalism“
New York 2014 (Three Rivers Press) - Meyer, Thomas
„Die Unbelangbaren“
Berlin 2015 (Suhrkamp) - Niggemeier, Stefan
“Irgendwas ist immer”
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 23. März 2014 - Paal, Boris und Hennemann, Moritz
„Gefahr für die Vielfalt?“
Frankfurter Allgemeine Zeitung 25. Mai 2016 - Pew Research Center
„How News Happens“ Studie
Baltimore 2010 - Thukydides „Geschichte des Peleponnesischen Krieges“
zitiert nach der Übersetzung von Georg Peter Landmann
München 1991 (dtv) - Wolf, Armin
“Wozu brauchen wir noch Journalisten ?”
Wien 2013 (Picus)
Empfohlene weiterführende Literatur:
- Fuller, Jack
“What is happening to News ?”
Chicago 2010 (University of Chicago Press) - Arnold, Bernd-Peter
“Nachrichten – Schlüssel zu aller Information “
Baden-Baden 2016 (Nomos)
Dieser Aufsatz ist erschienen in „Journalismus zwischen Autonomie und Nutzwert“
(Köln, von Halem Verlag, 2017), Hrsg. Karl Nikolaus Renner, Tanjev Schultz und Jürgen Wilke
„Nachrichtenselektion im Zeitalter des Internets“, Seite 213 ff.